Setzt Euch frei

Wo die Oderlandautoren ihren Ursprung haben, ist in der Zeit nicht genau zu lokalisieren. Der Raum steckt im Namen. Zeitlich liegt er vielleicht im Deutsch-Polnischen Literaturbüro, das sich zu Beginn der 1990er in Frankfurt an der Oder eben jener Literatur verpflichtet fühlte. Vielleicht reicht der Ursprung aber noch weiter zurück – in die Kreise der Schreibenden Arbeiter. Oder… Darüber können andere unserer Autorinnen und Autoren besser Auskunft geben als ich. Schreiben lernte ich zu dieser Zeit als etwas, das unweigerlich zum Leben dazugehörte. Nicht unbedingt als Kulturtechnik, eher als Bildungsgrundlage. Dass Schreiben im literarischen, im künstlerischen, im spielerischen, im gestalterischen, in allen Sinnen heute nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken ist, ahnte ich damals nicht.

Die ersten Schritte in diese Richtung machte ich in der Schreibwerkstatt an der Oder. Heute ist sie näher in das Zentrum der Stadt wie auch in mein Leben gerückt und heißt Sankt Spiritus. Hier erlebte ich auch, dass Schreiben nicht unbedingt ein einsamer Prozess sein muss. Hinzu kam eine der ersten Lesungen. Meine erste Nacht der Poesie. Eine Wiederbelebung poetischer Nächte, in denen ich noch nicht schrieb. Diese Nächte an der Oder haben ihre Quelle im Deutsch-Polnischen Literaturbüro. (Wer kann, möge mich berichtigen). Ich erinnere mich an meine erste poetische Nacht. Das Jahr erinnere ich nicht. Vielleicht 2009. Ich war sehr aufgeregt mit namhaften Autoren gemeinsam zu lesen. Ich erinnere mich, dass ich hernach zwei Nächte nicht schlafen konnte. So muss es sein, wenn Mensch auf Speed auf. Diese Nacht hatte so viel Energie freigesetzt… .

Mit dieser Nacht entwickelte sich unter der Schirmherrschaft von Dr. Wissen, dem damaligen Leiter der Bibliothek, das Autorentreffen. Mit am Werk waren wohl auch Menschen, die still im Hintergrund arbeiteten. Das kann ich nur vermuten. Wir trafen uns alle Vierteljahre, um über Texte zu sprechen, um uns auszutauschen und jeweils die nächste Nacht der Poesie vorzubereiten. Im vergangen Jahr (2015) dann die nicht nachvollziehbare Entscheidung der Kulturpolitik in Frankfurt an der Oder: Unser Treffen dürfe nicht mehr in den Räumlichkeiten der Stadt- und Regionalbibliothek stattfinden. Der Schirm war weg und auch der Herr ging.

Wir waren an die Luft gesetzt. Wir atmeten tief durch. Es setzte Energie frei. Keiner von uns wollte die Treffen und die Nacht der Poesie aufgeben. Also setzten wir uns in Bewegung. Wir suchten neue Räume und fanden sie. Wir suchten andere Unterstützer und fanden sie. Wir suchten keinen Namen und fanden ihn. Oderlandautoren. Die Stadt- und Regionalbibliothek wird Herberge für die Nacht der Poesie bleiben. Alles wuchs innerhalb eines halben Jahres aus sich selbst heraus und wächst weiter. Inzwischen sind wir dabei, einen Kooperationsvertrag mit „einem Großen“ zu schließen, bereiten die Zusammenarbeit mit der lokalen Buchhandlung Ulrich von Hutten vor und unsere erste Frühjahrslesung: Lyrik im Foyer. Zu diesen Entwicklungen schreiben wir, wenn die Zeit reif ist.

Was sich für mich im Augenblick darstellt: Neben den angestellten Künstlern, neben der freien Szene ist es möglich eine freigesetzte Szene zu etablieren, um Kultur in einem Ort mitzugestalten. Vielleicht trifft es das Adjektiv bürgergesellschaftlich und möglich, dass sich hier der Kreis der Schreibenden Arbeiter wieder schließt. Er hat eine andere Form und neue Inhalte. Er ist nicht vollkommen. Nicht rund. Eiert hier und da, schließt aber auch ein, bis zu einem gewissen Grad unabhängig zu sein. Dass wir nicht vollkommen unabhängig von der Kulturpolitik agieren können, ist klar, denn Grundstrukturen braucht es, wollen wir ein lokales kulturelles Netzwerk mit der Literatur über die Literatur hinaus schaffen. Doch fühle ich, dass die freigesetzte Szene einen gewissen Grad an Freiheit besitzt, dessen sie sich nicht immer bewusst ist und kulturpolitisch vielleicht auch nicht bewusst werden soll. Vor allem hat sie Potenz. Deshalb habe ich diese vielen Worte hier [nicht] verschwendet: Kulturarbeit ist anstrengend. Kulturarbeit ist schön. Macht Euch ans Werk – auch wenn es ein kleines, vor allem, wenn es ein lokales wird. Setzt Buchstaben. Setzt Zeichen. Setzt Euch frei!

3 Antworten auf „Setzt Euch frei

  1. Anja Gumprecht

    „Der Schirm war weg und auch der Herr ging.“
    Ein schönes Bild hast Du da gezeichnet für uns ODERLANDAUTOREN. Ich hatte sofort einen fröhlichen, frei umherspringenden Spazierstock vor Augen. Plötzlich ist er ungebunden, muss niemanden mehr schützen, muss niemanden mehr stützen. Jetzt kriegt er endlich auch mal ein paar Tropfen ab, wenn es regnet und darf von nun an selbst bestimmen, wohin die Reise geht.
    Noch ist es für mich ein ungewohntes Gefühl, meine Gedanken einfach so in die Welt hinaus zu posaunen. Aber ich will mich gerne mit auf den Weg machen!

    Gefällt 1 Person

  2. Henry-Martin Klemt

    Die 1. Nacht der Poesie fand am 7. September 1996 um 20 Uhr als Veranstaltung des Deutsch-polnischen Literaturbüros Oderregion e.V. im Hof des Hauses der Künste in der Lindenstraße statt. Die Veranstaltung war eingebettet in das Hanse-Fest Frankfurt. Es lasen: Henry-Martin Klemt, Maik Altenburg, Ralf Siegfried, Frank Hammer und Ehrenfried Jäschke. Dazu spielte Drei Liter Landwein. Der Hofgarten des Cafés Calliope war geöffnet. Das deutsch-polnische Literaturbüro verkaufte seine Publikationen, darunter die Anthologie der Interessengemeinschaft junger Autoren (IJA) „Die Augen des Tigers“.
    Bereits Anfang der 90er Jahre gründete sich das deutsch-polnische Literaturbüro Oderregion e.V. Nestoren waren Helmut Preißler und Zdislaw Morawski, deren Freundschaft noch einige Jahrzehnte weiter zurückreichte. Natürlich waren das nicht die einzigen deutsch-polnischen Beziehungen. Erfreulich war, dass sie auf die jüngsten Autoren übergingen, vor allem auch dank Anetta Kostrzewka, die in Slubice junge Literatur förderte. So haben sich die Nachwuchsautoren wechselseitig übersetzt, daraus ging eine Anthologie hervor.
    All dessen ungeachtet, würde ich mich selbst kaum als Oderlandautor bezeichnen, sondern allenfalls als Dichter deutscher Zunge. Mein Raum ist der Sprach-Raum, in dem ich mich bewege.

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar